Die drei Siebe des Sokrates

Von Frank H. Sauer

Sokrates

Aus einer überlieferten Geschichte können wir entnehmen, wie in der menschlichen Kommunikation sehr leicht zwischen unwichtigen und wichtigen Informationen unterschieden werden kann. Diese Unterscheidung macht vor allem dann Sinn, wenn wir ein erfülltes Leben führen wollen.

Überlieferte Geschichte

Die Geschichte ist nicht neu und kursiert seit langem in verschiedenen Versionen. Hier ist die aus meiner Sicht beste Übersetzung:

Einst wandelte Sokrates durch die Straßen von Athen. Plötzlich kam ein Mann aufgeregt auf ihn zu. „Sokrates, ich muss dir etwas über deinen Freund erzählen, der…“
„Warte einmal,“ unterbrach ihn Sokrates. „Bevor du weitererzählst – hast du die Geschichte, die du mir erzählen möchtest, durch die drei Siebe gesiebt?“
„Die drei Siebe? Welche drei Siebe?“ fragte der Mann überrascht.
„Lass es uns ausprobieren,“ schlug Sokrates vor. „Das erste Sieb ist das Sieb der Wahrheit. Bist du dir sicher, dass das, was du mir erzählen möchtest, wahr ist?“
„Nein, ich habe gehört, wie es jemand erzählt hat.“
„Aha. Aber dann ist es doch sicher durch das zweite Sieb gegangen, das Sieb des Guten? Ist es etwas Gutes, das du über meinen Freund erzählen möchtest?“
Zögernd antwortete der Mann: „Nein, das nicht. Im Gegenteil …“
„Hm,“ sagte Sokrates, „jetzt bleibt uns nur noch das dritte Sieb. Ist es notwendig, dass du mir erzählst, was dich so aufregt?“
„Nein, nicht wirklich notwendig,“ antwortete der Mann.
„Nun,“ sagte Sokrates lächelnd, „wenn die Geschichte, die du mir erzählen willst, nicht wahr ist, nicht gut ist und nicht notwendig ist, dann vergiss sie besser und belaste mich nicht damit!“

Quelle: Stangl, W. (2020). Die drei Siebe des Sokrates – Wahrheit – Güte – Notwendigkeit. Werner Stangls Arbeitsblätter-News. https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/die-drei-siebe-des-sokrates-wahrheit-gute-notwendigkeit/ (Abgerufen am 28.06.2020).

Interpretation

Aus dieser Geschichte können wir lernen, dass überlieferte Informationen durchaus geprüft werden sollten. Insbesondere dann, wenn wir eine Kultur der Vernunft, Weisheit und sozialen Gerechtigkeit pflegen wollen. Zum besseren Verständnis definiere ich die „Filter“ (Siebe) mit der wertesystemischen Brille:

1. Wahrheit

Wahrheit ist objektive Richtigkeit, welche auf Tatsachen begründete Aussagen trifft. Den Begriff finden wir vor allem in der Philosophie und im Rechtssystem.

Die Philosophie sagt:

„Jede relative Wahrheit ist in gewissen Grenzen eine richtige Widerspiegelung der objektiven Realität“.

Und in gegenständlicher und konstruktiver Form, wie sie in der Kommunikation Anwendung finden sollte:

„Wahrheit ist die Eigenschaft von Botschaften, die mit dem Sachverhalt, den sie wiedergeben, übereinstimmen“.

Im Rechtssystem fundiert Wahrheit auf Beweise, Belege und Bezeugung, die nach bestimmten Rechtsnormen ermittelt und zugelassen werden. Wie ein Gericht die Wahrheit ermittelt, hängt von der jeweiligen Prozessordnung ab. So gilt in einigen Fällen auch der sogenannte Anscheinsbeweis. Auch begründen sich juristische Urteile auf glaubhafte Zeugenaussagen, die in vielen Fällen auf subjektive Wahrnehmung basieren. „Recht bekommen“ ist also nicht gleichbedeutend mit Wahrheit.

Zur Herkunft des Adjektivs „wahr“ lassen sich viele Quellen erschließen. Hier möchte ich die Wichtigsten aufführen, um die vielschichtige Bedeutung aufzuzeigen:

  • Althochdeutsch (8. Jh.) „wār“ = „wahrhaft, wirklich, gewiss, echt, recht
  • Germanisch „wēra-“ abgeleitetes althochdeutsch „wāri“ (8. Jh.) das verwandt ist mit althochdeutsch „wāra“ = „Bündnistreue, Schutz“ (8. Jh.)
  • Mittelhochdeutsch „wāre“ = „Vertrag
  • Altenglisch „wær“ = „Vertrag, Schutz
  • Altnordisch „vārar“ (Plur.) = „Gelübde“, aus germanisch „wērō“
  • Lateinisch „vērus“ = „GlaubeZuversichtVertrauen
  • Ableitungen: „wahren, wahrhaft, wahrlich, fürwahr

Wahrheit ist also eine Art Wertesystem, das z. B. aus EhrlichkeitOffenheitInteresseRealismusIntegritätAktualitätRedlichkeitSicherheitAuthentizität und zuweilen auch Mut besteht. Aber auch Respekt, im Sinne von lateinisch „respectus“ = „zurückschauen, Rücksicht, Berücksichtigung“, kann ein wichtiger Wert sein, um Wahrheit zu finden.

Das Finden der bestmöglichen Wahrheit kann durch Anwendung einer unbeeinflussten „Dialektik“ vereinfacht werden.

2. Güte

Als Güte oder Gütigkeit bezeichnet man die Haltung einer Person, freundlich, zuvorkommend und nachsichtig zu sein. Im Fokus steht das, was „gut“, sinnvoll und wertvoll ist. Menschen, mit einer konstruktiven Gesinnung sind meist gütige (gutwillige, wohlgesonnene) Zeitgenossen.

So wird der Begriff Güte auch im Sinne von Qualität verwendet, welche attributbehaftet mit gewünschten, werthaltigen Nutzenmerkmalen ausgestattet ist.

Das Adjektiv „gut“ hat eine sehr umfangreiche und interessante etymologische Herkunftsdeutung. Es stammt aus germanisch „gōda“ = „vornehm, edel, angesehen, ehrlich abgeleitet in gütig“ = „hilfreich, verzeihend“; gehört ablautend zur indoeuropäischen Wurzel „ghadh-“ = „vereinigen, eng verbunden sein, zusammenpassen“ (auch altindisch „gádhyaḥ“ = „was man gerne festhält, was einem paßt“); ist verwandt mit „Gatte“ aus „vergattern, Gatter, Gitter“.

Somit stellen wir fest, dass Güte ein qualitatives Merkmal ist, dass – neben der auch verwendeten technischen Betrachtung – insbesondere für das Wertesystem Menschlichkeit maßgebend ist.

3. Notwendigkeit

Notwendig ist das, was wirklich wichtig ist – mit den Attributen „unentbehrlich“ und/oder „erforderlich“.

Die philosophische Definition für „das Notwendigsein“ im Marxismus lautet: „Art des Zusammenhangs zwischen Objekten, Prozessen, Systemen der materiellen Welt oder des Bewusstseins, der unter gegebenen Bedingungen nur so und nicht anders sein kann“.

Notwendig ist das, was kurz-, mittel- oder langfristig dringend und wichtig (oder nur wichtig, aber nicht dringend) ist, um folgenden Aspekten zu entsprechen bzw. zu genügen:

  1. es entspricht ethischen Ansprüchen (siehe EMR-Modell)
  2. es besitzt moralische Kriterien
  3. es ist rechtlich relevant
  4. es klärt auf (schafft Klarheit)
  5. es ist inspirierend und schöpferisch
  6. es ist humorvoll und bereitet Freude
  7. es schafft ein höheres Bewusstsein

Anmerkung: Die Reihenfolge der Auflistung ist priorisierend. Das heißt auch, wenn z. B. zwei oder mehr Nachrichten übermittelt werden sollen, muss diejenige zuerst zu übermittelt werden, welche in diesem Ranking weiter oben steht.



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