Wir leben in moralisch aufgeladenen Zeiten. Klimakrise, Kapitalismuskritik, Trump, Vormarsch der Autokratien, Corona und jetzt der Ukrainekrieg: So unterschiedlich diese Phänomene sind, so eint sie eines: Man stellt sich wieder Grundsatzfragen und das sind immer Wertefragen. Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit, Recht, Menschenwürde, Verhältnismäßigkeit sind Begriffe der Ethik und der Moral. Gefühlt alle stellen und beantwortet sie sich: Ist die Demokratie bedroht, sind Freiheitseinschränkungen in Anbetracht der Klimakrise oder wg. Corona zumutbar, ist Frieden ein höheres Gut als Freiheit und darf man deshalb die Ukraine mit Waffen beliefern, darf man mit Autokratien Geschäfte machen, etc. Alles Fragen, die grundlegende Haltungen ansprechen und einfordern. Und die Unternehmen sind da dann natürlich auch mit im Spielfeld, weil es sie entweder unmittelbar betrifft und wenn es sie nicht betrifft, so wird eine bestimmte Einstellung gefordert, von der Politik oder von der Gesellschaft. Wie wichtig sind Werte Unternehmen wirklich? Orientieren sie ihr Handeln aus Selbstüberzeugung nach Werten aus oder reagieren sie nur auf politischen und gesellschaftlichen Druck?
Werte vs. Interesse
Systemisch betrachtet ist ein Unternehmen ein simples Gebilde. Es will einfach überleben und das geht eben nur, wenn man genügend Umsatz und Gewinn macht. Insofern sind monetäre Ziele, bzw. Ziele, mit denen man diese monetären Ziele erreicht, die wichtigsten Werte. Es sind überwiegend materielle Werte. Und da fängt es auch schon an mit den inneren Konflikten. Um diese monetären Ziele zu erreichen, braucht ein Unternehmen mindestens Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten, die alle irgendwelche Bedürfnisse haben, die befriedigt werden müssen, was in der Regel Zeit und Kosten verursacht und was wiederum den Umsatz und den Gewinn schmälert. Den primären monetären Unternehmenszielen stehen also Ziele anderer Stakeholder entgegen, die mal zwischenmenschlicher oder mal vertraglich-technischer oder vertraglich-finanzieller Natur sind. So gesehen stehen Unternehmen wesensmäßigen immer in einem Kernkonflikt, den eigenen (finanziellen) Vorteil über das legitime Interesse des Stakeholders zu stellen und entsprechenden zu handeln, mitunter auch unmoralisch, v.a. wenn es sich um eine asymmetrische Beziehung zwischen Unternehmen und Stakeholder handelt. Mit einem Wertebezug im Handeln wäre das anders, weil dann nicht mehr das materielle Unternehmensinteresse das zentrale Ziel ist, sondern beispielsweise der Wert der Fairness, der Langfristigkeit, der Verbindlichkeit, der Gegenseitigkeit und des Vertrauens, auch wenn das kurzfristig mehr Geld kostet. Mit einem Wertebezug im Handeln reduzieren Unternehmen Konflikt- und Transaktionskosten. Moralische Werte halten das wesensmäßig konfliktäre Gebilde zwischen dem Unternehmen und seinen Stakeholdern zusammen, weil sie das zentrale Ziel haben, das zu erreichen und so zu handeln, was für alle Beteiligten gut ist. Werte ermöglichen aus systemischer Gegnerschaft Kooperationspartnerschaften auf Augenhöhe zu machen.
Geteilte und gute Werte
Warum sind nun Unternehmenswerte sonst noch so wichtig. Sie halten nicht nur das fragile und wesensmäßig konfliktäre Zusammenspiel zwischen Unternehmen und Stakeholdern im Sinne eines Interessenausgleichs zusammen, sie sind auch die Grundlage für Handlungen, Bewertungen und Entscheidungen. Sie sind Beurteilungsmaßstab und sie entscheiden maßgeblich darüber, ob Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dem Unternehmen innerlich folgen und es unterstützen oder eben nicht. Jede Handlung basiert letztendlich auf Werten. Handlungen des Managements und von Führungskräften werden von den Beschäftigten eher akzeptiert, wenn sie auf geteilten Überzeugungen basieren, selbst dann, wenn sie gegen (kurzfristige) Interessen und Bedürfnisse der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verstoßen würden. Je mehr ein Unternehmen bestimmte Werte im Inneren teilt, desto weniger Konflikte und Missverständnisse gibt es. Durch geteilte Werte werden Handlungen leichter verständlich und anschlussfähiger. Geteilte Werte erhöhen die Akzeptanz von Handlungen. Das ist ein weiteres wesentliches Merkmal von Unternehmenswerten.
Die Frage ist nur, ob diese geteilten Werte auch gut sind. Schließlich haben die Mafia und die Nazis auch Werte, die aber nicht gut, weil menschenverachtend sind. Wenn VW seine Kunden betrügt und nach innen eine Kultur der Angst etabliert, kann man zumindest davon ausgehen, dass die damit verbundenen „Werte“ (Erfolg um jeden Preis, kompromisslose Fehlerfreiheit, Kritik unerwünscht, der Beste sein wollen, Gehorsam, Macht, Autorität, etc.) keine geteilten Werte sind, sondern dass es hier durchaus auch Widerstände gibt und Menschen das Unternehmen trotz bester Bezahlung in signifikantem Umfang auch verlassen, bzw. dort nicht anheuern, nicht loyal und motiviert sind, sondern Dienst nach Vorschrift machen. Das Unternehmen zerstört sich durch falsche Werte von innen heraus, weil es keine geteilten und guten Werte sind. Die ersten Anzeichen sind bei VW bereits jetzt schon zu erkennen.
Werte als Filter
Eine weitere ganz praktische Facette der Bedeutung von Unternehmenswerten sieht man bei der Auswahl von Führungskräften. Man könnte meinen, dass Unternehmen die besten Führungskräfte auswählen wollen, aber was heißt hier die „Besten“. Die besten Führungskräfte sind diejenigen, die die Werte des Unternehmens am besten repräsentieren. In einem sehr technikaffinen Unternehmen werden oftmals die besten Ingenieure zur Führungskraft berufen, in stark kennzahlengeprägten Unternehmen, die besten Macher, mit der besten Durchsetzungskraft und dem besten Leistungsanspruch, in modernen Unternehmen werden die Menschen als Führungskraft ausgewählt, die Menschen und Teams am besten von A nach B führen kann, die wertschätzend, fair und klar sind. Hinter all solchen Führungsentscheidungen und Auswahlkriterien stehen bestimmte Werte und Präferenzen der Entscheider, die eine unbewusste Vorauswahl darüber treffen, was „gut“ ist und gebraucht wird, jedoch ohne sich darüber in aller Regel auch bewusst zu sein. Individuelle Werte und Präferenzen verzerren also die Wahrnehmung auf das objektiv Richtige und Notwendige, weil manchmal auch genau das Gegenteil vom dem richtig sein kann, was man so als „unternehmenstypisch“ und „opportun“ betrachtet. Genau deshalb ist es wichtig darüber zu reden, was dem Unternehmen wichtig ist, was seine Werte sind und was sie im Konkreten bedeuten.
Die Glaubwürdigkeitsfalle
Also „let`s talk about values“. Warum das noch wichtig ist? Um nicht in die Glaubwürdigkeitsfalle zu treten. Ein zweites Problem bezieht sich auf die Unternehmenswerte, die nach außen kommuniziert werden: Trendig ist gerade die Nachhaltigkeit. Es ist aktuell der Megatrend, weil er alles, was politisch, gesellschaftlich, ökologisch und wirtschaftlich drängend ist, in sich vereint. Kein Unternehmen kann sich dem entziehen und so macht es aus der Not eine Tugend, also ein Business-Case draus. Das Marketing tritt auf den Plan. Plötzlich wird alles grün: Ambitionierte CO2-Ziele werden proklamiert, ohne jedoch signifikant Ressourcen einzusparen (E-Autos sind im optimalen Fall zwar CO2 frei, deren Produktion aber sehr ressourcenintensiv; Amazon setzt zwar mehr Elektrofahrzeuge ein, vernichtet aber millionenfach retournierte Ware), Wälder werden im Rahmen vom Zertifikatshandeln neu aufgeforstet, obwohl Unternehmen selbst mehr sparen könnten, dies aber aus Kosten- oder Transformationsgründen nicht tun. Das Freikaufen ist günstiger als selbst den eigenen CO2-Abdruck zu verkleinern. Die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien wird suggeriert, obwohl die Siegel und Labels oft sehr unterschiedlich starke Kriterien anlegen, sodass die Nachhaltigkeitseffekte nicht wirklich bedeutsam sind. Banken legen zunehmend grüne Fonds auf, doch der größte Teil dieser Fonds sind nach wie vor mit nicht-nachhaltigen Anteilen bestückt. Kreislaufwirtschaft wird versprochen, obwohl dies nur ein kleiner Teil der Ressourcen betrifft usw.
Das Problem daran ist, dass hier Werte ökonomisch instrumentalisiert werden und Werte nicht um ihrer selbst willen eingehalten werden. Solche Nachhaltigkeitsproklamationen sind Versprechen an den Kunden. Werden diese nicht eingehalten, bekommen die Unternehmen ein Imageproblem. Kunden werden angelogen oder in die Irre geführt. Insofern haben Werte hier eine doppelte Bedeutung. Einmal machen sie deutlich, ob und inwieweit das Unternehmen integer, also vertrauenswürdig und glaubwürdig ist, d. h. ob es das, was es sagt, auch tut. Zum anderen zeigt ein Unternehmen damit auch, was ihm wirklich wichtig ist und was nicht, und ob es eine „Idee für ein gutes Leben“ hat. Kunden und Konsumenten achten in zunehmendem Maße darauf und junge Menschen wollen in Unternehmen arbeiten, nicht weil sie da mehr Geld verdienen, sondern weil das Unternehmen für Werte steht und sie im Zweifel auch auf Kosten der Rendite verteidigt. Dieser fundamentale Wertewandel von der Babyboomer-Generation zur Generation XYZ ist ein weiterer Grund dafür, warum Unternehmen schon aus Eigeninteresse dringend und ganz bewusst über Werte sprechen sollten.
Marcus Ketschau – Ethisch Managen – www.ethisch-managen.de