Der Versuch einer Einordnung von Bettina Mathar
Beim Thema Gendern scheiden sich die Geister. Meist sind die Fronten geklärt bis verhärtet.
Ob jemand gendert oder nicht hat eine Wirkung. Gendern hat etwas mit dem Blick auf die Welt zu tun. Gendern ist in meinen Augen ein Aspekt von Wertschätzung. Deshalb sehe ich jede und jeden von uns in der Verpflichtung, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Möchte ich gendern oder entscheide ich mich bewusst dagegen.
Welche Wirkung will jede und jeder von uns hervorrufen? Ist diese Wirkung beabsichtigt und entspricht sie der eigenen Haltung und dem eigenen Werteempfinden? Denn keine klare Meinung entbindet nicht von Konsequenzen.
Es geht nicht um 100%ige Regeltreue – sondern um ein gelebtes WARUM
Mir persönlich ist Gendern wichtig. Gendern ist für mich ein Ausdruck von Wertschätzung. Dabei geht es mir nicht um das 100%ige Einhalten von irgendwelchen Regeln. Welcher Regeln überhaupt? Was sagt man denn gerade? Sagt man überhaupt noch was oder wird persönliche Ansprache komplett vermieden?
Mir geht es um den Grund, also das Warum, den Inhalt von Aussagen. Um den Kontext. Ich prüfe, ob ich es schaffe, so viele Menschen wie möglich anzusprechen. Und nicht nur mitzumeinen. An manchen Stellen benutze ich eine männliche und weibliche Variante, an anderer Stelle verwende ich lieber ein *Innen. Wenn es sich anbietet, ersetze ich die persönliche Ansprache durch ein neutraleres Wort. Und manche Ausdrücke, lasse ich, wie sie schon immer waren – weil der Sinnzusammenhang klar ist. Und bleibt.
Es geht um mein Empfinden von klarem Ausdruck. Und das kann im Endeffekt nur ich entscheiden. Bewusst. Das ist auch meine Haltung, mit der ich KritikerInnen gegenübertrete.
Mein persönlicher Maßstab beim Gendern hat nichts damit zu tun, irgendwelche Regeln grundsätzlich und ausnahmslos zu befolgen. Der Grund, warum ich meine Sprache anpasse? Weil mir jeder Mensch gleich wichtig ist. Unabhängig seines Geschlechts. Die Welt ist nicht schwarz und weiß. Sie ist bunt. In vielen Schattierungen. Und Worte schaffen ein Bewusstsein dafür. Worte machen einen Unterschied.
Es geht um das Sein. Lebendig sein. Mensch sein. Nicht ums bloße Tun.
Gendern ist ein Mix aus Alt und neu. Ein Ausprobieren. Sprache lebt und wir sind lebendig mit ihr.
Deshalb geht es mir nicht um absolute Regelkonformität – denn die macht genau das, was die KritikerInnen anführen: Sprache wird unverständlich, nicht mehr handhabbar. Dann handelt es sich um Dogmatismus, der sein Warum ausschließlich über das strikte Einhalten von verkomplizierenden Regeln definiert.
Denn: Wir lernen alle noch. Täglich. Bei jeder Suche nach einem stimmigeren Wort. Ich behaupte: niemand hat bisher eine ideale Form des Genderns „erfunden“ oder definiert. Wir werden weiterhin ausprobieren. Was funktioniert wird übernommen. Und auch in diesem Fall braucht Veränderung einfach Zeit, Mut zum Ausprobieren und Gnade.
Warum ist (mir) Gendern so wichtig?
Erfahrungen verändern unseren Blick auf die Welt. Ich habe genau die Erfahrung gemacht. Die Erfahrung, was sich für mich verändert, wenn ich nicht nur mitgemeint werde, sondern explizit angesprochen bin. Wie sich das Bild von mir selbst verändert. Und wie dadurch ein anderes Bewusstsein für mich selbst entsteht.
Wir wollen die Welt in Optionen denken. Was aber, wenn unsere Sprache uns im Kopf Bilder zeigt, bei denen einige Optionen direkt wegfallen? Nicht mitgedacht werden? Wenn wir nicht wissen, dass es im Rahmen des Möglichen liegt: wie sollen wir es uns als Ziel setzen?
Natürlich sind Sprüche nett wie: „Du kannst alles werden was du willst.“
Doch diese Worte müssen mit Leben gefüllt werden. Sie dürfen und sollen konkret werden. Was ist denn dieses „Alles“, was ich werden kann?
Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin das Kind einer Arbeiterfamilie. Mein Bild über meine Zukunftsoptionen sagte deutlich, dass ich nicht alles werden kann, was ich will. Ich mag die erste gewesen sein, die das Abitur gemacht hat. Die studiert hat. Und doch war klar: such dir einen festen Job, halt die Füße still, ertrage was ansteht. Du wirst noch dankbar sein, wenn du nach den Kindern wieder in Teilzeit zurückkommen kannst und man dich dort noch duldet. Es gab keine Rollenvorbilder, die mich hätten erkennen lassen, was noch alles möglich ist.
Nur, weil etwas schon gefühlt ewig so gemacht wird, heißt das noch lange nicht, dass es gut so ist. Dass es sinnvoll ist. Dass es stimmig ist.
Ja. Gendern ist anstrengend. Ungelenk. Wie alle Veränderungen. Die meisten Veränderungen tun weh. Jede und jeder muss für sich entscheiden, ob es den Preis wert ist. Für mich ist er das. Meine Töchter haben mehr Optionen, als ich sie in ihrem Alter in meinen Träumen hatte.
Sie sind Heldinnen – nicht Helden. Sie kennen Unternehmerinnen, die mehr Einfluss haben als ihre Opas zusammen.
Sie kennen ihren Wert. Sie sind es wert, erwähnt zu werden und nicht nur mitgemeint. Sie sind es wert, alle Optionen zu denken und sich dann frei zu entscheiden. Für sie hat ein CEO nicht zwingend einen schwarzen Anzug an und weil wir Astronautinnen sagen, kann es durchaus sein, dass sie mal zum Mond fliegen.
Dazu eine kurze Geschichte, vielmehr ein Rätsel:
Folgende Situation: Vater und Sohn verunglücken mit dem Auto. Der Vater stirbt am Unfallort, der Junge wird in die Notaufnahme gebracht und direkt in den OP geschoben. Der diensthabende Arzt kommt herein-geeilt, wirft einen Blick auf den Jungen und sagt: „Ich kann dieses Kind nicht operieren. Das ist mein Sohn.“ Wie kann das sein?
Ein Tipp von mir, falls du nicht auf eine sinnvolle Lösung kommst: ersetze das generische Maskulinum. Mach aus dem Arzt eine Ärztin. Die Bilder in deinem Kopf werden sich verändern. Und die Lösung ist sonnenklar, oder?
Was gendern mit Nachhaltigkeit gemein hat
Mit Gendern ist es meiner Meinung nach wie mit Nachhaltigkeit. Oder vegan sein. Man darf damit auch anfangen, wenn man noch nicht perfekt darin ist. Man darf klein anfangen. Jeder weitere Mensch, der sich angesprochen statt einfach nur mitgemeint fühlt, ist es wert. Niemand muss 100% perfekt gendern können, ehe er oder sie das erste Mal bewusst das generische Maskulinum gegen etwas anderes austauscht.
Erlaubnis erteilt.
Bei mir macht Gendern einen Unterschied. Sowohl wenn ich Empfängerin bin – denn da erweitert es das Bild in meinem Kopf und ich fühle mich richtig. Stimmig. Passend. Genug. Und auch, wenn ich als Absenderin dieser Aussagen unterwegs bin, bewirke ich etwas. Denn es gibt Reaktionen aufs Gendern. Und 9 von 10 Reaktionen sind tatsächlich positiv. Dankbar. Positiv erstaunt. Von Menschen, die es nach der guten Erfahrung selbst ausprobieren und damit jemand anderem vielleicht auch die Möglichkeit auf mehr Optionen schenken.
Geben und geben. Niemand hat etwas zu verlieren.
Und ja. Es gibt kritische Stimmen. Und so wie ich diese Meinungen nicht teile aber respektiere, erwarte ich das auch von meinem Gegenüber. Für mich sind Menschen auch dann in Ordnung, wenn sie nicht meiner Meinung sind.
Jedem Menschen sind andere Dinge wichtig. Jede und jeder legt auf andere Punkte ihren und seinen Fokus – und das ist gut so.
Egal ob pro oder contra Gendern: es sollte immer eine „bewusste“ Entscheidung vorausgehen.
- Warum versuche ich zu gendern?
- Ist es für mich stimmig weiterhin das generische Maskulinum zu verwenden?
In meinen Augen hat niemand das Recht, deine Antworten dazu und deine daraus resultierende Entscheidung zu bewerten.
Diese bewusste Entscheidung macht den Unterschied. Sie ist eine Haltungsfrage.
Haltung macht den Unterschied.
Was du nicht änderst, wählst du.